Romantic Renaissance – Tim Leberecht im Interview
Mit der Digitalisierung gerät die Optimierung aller Faktoren im Unternehmen immer mehr in den Vordergrund. Doch wird damit auch der Mensch zum Zahnrad in der Maschinerie. Im Interview erläutert Tim Leberecht, Gründer und CEO der Business Romantic Society, wie die Romantik den Menschen als Kern allen Wirkens wieder in den Mittelpunkt rückt.
Warum sollte der Umgang im digitalen Zeitalter romantischer werden und worum geht es bei „Romantischem Business“?
Die Digitalisierung ist, wenn wir ehrlich sind, vor allem auch eine Geschichte der Enttäuschung. Man könnte sogar von einer Entzauberung sprechen. Wir erhofften uns vom Internet, dass es die Welt vernetzter, demokratischer und inklusiver machen würde. Nun mussten wir aber feststellen, dass unsere Hoffnungen – basierend auf den Versprechen der Tech-Giganten – zu einem Großteil betrogen wurden. Die Digitalisierung hat uns vernetzt, aber wir sind gestresster, einsamer und sozial isolierter als zuvor. Ganz zu schweigen von der extrem ideologischen und materiellen Polarisierung, die unsere Gesellschaften zu zerreißen droht.
Natürlich können wir schneller und globaler handeln. Die Effizienzgewinne sind enorm, aber der Fokus liegt eben immer nur auf Optimierung. Wir erleben einen neuen Reduktionismus, der droht, uns auf reine Datensätze zu reduzieren, unsere Identitäten aufzulösen und unsere digitalen Beziehungen und Interaktionen im Rahmen der totalen digitalen Marktgesellschaft kommerziell auszuwerten. Die GAFA und ihre Plattformen zerstören zudem unverblümt traditionelle Industrien und Grundfeste unserer Demokratien. Wir sind zunehmend gefangen in binären Denk- und Handlungsmustern, die uns die digitalen Disruptoren aufgezwungen haben, und mit der rasanten Entwicklung von Künstlicher Intelligenz stellen sich nun auch existentielle Fragen: Welchen Wert werden Menschen in Zukunft noch zur Wirtschaft beisteuern? Wie werden wir arbeiten, leben und lieben? Was wird es bedeuten, Mensch zu sein?
Angesichts all dieser Entwicklungen brauchen wir dringend eine neue romantische Bewegung. Wie die Romantiker im 18. und 19. Jahrhundert – Novalis, William Blake oder Lord Byron – gegen den Alleinanspruch der Vernunft und der empirischen Wahrheit aufbegehrten, so sollten wir jetzt auch gegen die Entzauberung der Welt durch die Ökonomisierung, die Datafizierung und Quantifizierung unserer Identitäten und Beziehungen aufbegehren – weit über den Arbeitsplatz hinaus. Wir brauchen wieder mehr Romantik in unserem Leben und Business ist dafür die perfekte Bühne. Die Wirtschaft ist das wirkmächtigste Betriebssystem unserer Zeit und wir verbringen die Mehrheit unserer wachen Stunden mit Arbeit.
Warum sollte der Umgang im digitalen Zeitalter romantischer werden und worum geht es bei „Romantischem Business“?
Die Romantik eröffnet neue Welten: sie glaubt daran, dass es immer noch eine andere Welt, eine andere Wirklichkeit gibt. Sie vergrößert somit das Spielfeld für unsere kognitive and emotionale Erfahrung. Romantisch zu denken bedeutet imaginativ zu denken und nicht nur rein rational. Dies hilft uns dabei, uns selber besser kennenzulernen und den Menschen eben nicht nur als rein effizienzgetriebene Produktvitätsmaschine zu begreifen, sondern wertzuschätzen. Es gibt da eben auch noch eine andere Tiefe, die nicht zu quantifizieren ist und vielleicht noch nicht einmal benannt werden kann. Durch die Romantik werden wir ganzheitlichere, vollständigere Arbeiter, Manager und Unternehmer. Wir sehen und spüren mehr und blicken weiter. Die Romantik ist somit die Lebensversicherung für menschliche Arbeit in Zeiten von KI und Automatisierung. Romantik ist, was uns menschlich macht, und Romantik ist das ultimative Alleinstellungsmerkmal, wenn alle anderen nur optimieren und maximieren. Und nicht zuletzt ist Romantik auch eine Quelle von Innovation, weil sie uns erlaubt, neue Welten, neue Wirklichkeiten zu erfinden, und zudem auch ein wichtiger Faktor für die Nähe zu Kunden und Mitarbeitern, weil sie uns erlaubt, Empathie zu entwickeln, d.h. Menschen nicht nur als rationale Akteure zu begreifen, sondern als emotionale, unberechenbare und geheimnisvolle Wesen.
Zum Thema Sinn: Was muss getan werden, um den Sinn und damit auch die Identität des Unternehmens zu finden und dann auch zu leben?
Einen ersten Ansatzpunkt liefert der Gründungsmythos des Unternehmens: Was war die (Leidens-)geschichte der Gründer, ihr „Warum“? Welche Werte ziehen sich wie ein roter Faden durch die Unternehmensgeschichte? Darüber hinaus gibt es eine wunderbare Formel der amerikanischen Autorin Priya Parker: „Was ist die größtmögliche positive Veränderung in der Welt, die du mit deinen Fertigkeiten, Ressourcen und deiner Leidenschaft bewirken kannst?“ Die Antwort auf diese Frage ist der Sinn des Unternehmens, oder wie es so schön im neudeutschen Business-Jargon heißt: der Purpose.
Es ist immer wieder erstaunlich, wieviel Unternehmen diese Frage nicht beantworten können bzw. sie mit rein operativen Zielen beantworten, wie zum Beispiel „die bestmögliche Leistung für unsere Kunden zu liefern“ oder „kontinuierlich zu wachsen.“ Das ist natürlich viel zu klein gedacht und kein Sinn an und für sich. Letztlich ist die Frage nach dem Purpose, nach dem weiterführenden Sinn des Unternehmens, immer auch eine Frage der Vision. Welche Idealvorstellung hat ein Unternehmen von der Welt und wie kann es dazu beitragen, diese zu verwirklichen? Wir Deutschen tun uns traditionell schwer mit Visionen, natürlich auch aus historischen Gründen. Helmut Schmidt‘s Diktum „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen“ ist leider immer noch konsensfähig und offenbart das Grundproblem der deutschen Wirtschaft: den Mangel an Visionen. Die Automobilindustrie ist dafür das beste Beispiel. Man kann von Uber halten, was man will, aber die Vision „Mobilität so einfach und selbstverständlich zu machen wie Wasser oder Strom“ ist klar und ambitioniert. Viele der deutschen Hersteller gingen währenddessen viel zu lange davon aus, dass es reiche, einfach die besten Autos zu bauen. Eine starke Vision muss übrigens immer wehtun; muss immer polarisieren. Ansonsten wird sie niemanden inspirieren und mobilisieren. Nehmen wir das Beispiel Patagonia, den Anbieter von Outdoor-Kleidung. Dessen Purpose ist es, alle seine unternehmerischen Aktivitäten darauf abzustellen, den Klimawandel zu bekämpfen. Die Firma zieht das konsequent durch und scheut auch nicht davor zurück, politisch Farbe zu bekennen und klar gegen Präsident Trump Stellung zu beziehen. Hier in Deutschland ist es immer wieder Siemens CEO Joe Kaeser, der immer wieder politische Themen anspricht, oder auch Otto Group CEO Alexander Birken, der deutliche Worte zur AfD fand.
Zusammenfassend würde ich sagen, der Sinn eines Unternehmens muss klar definiert und artikuliert werden, idealerweise als Ableitung einer weiterreichenden Vision. Und muss dann jeden Tag gelebt werden – vom Verhalten der Führungskräfte zu eigentümlichen Ritualen und symbolischen Handlungen zu den vielen kleinen, flüchtigen Momenten im Arbeitsalltag. Wenn ich Unternehmen berate, lege ich daher immer viel Wert auf die Vision und die Geschichte des Unternehmens, womit ich nicht nur die Historie, sondern eben vor allem auch die Story meine. Einem Unternehmen ohne Vision wird es an einer einzigartigen, packenden Geschichte mangeln und ohne die wird es nahezu unmöglich sein, Sinn und Identität zu stiften.
Welche Eigenschaften sollten innerhalb des Unternehmens gelebt werden, um im Arbeitsalltag der Zusammenarbeit mehr Wertigkeit zu verleihen?
Ich glaube, wir würden besser zusammenarbeiten, wenn wir mehr Zeit alleine mit uns selbst verbringen und weniger zusammenarbeiten würden. Dadurch würde echte Zusammenarbeit wieder mehr geschätzt. Durch digitale Plattformen wie Slack oder Trello werden wir ja nahezu zur permanenten Zusammenarbeit im gleißenden Rampenlicht der „radikalen Transparenz“ gezwungen. Ständige, offene Kommunikation wird allgemein für gut befunden und partizipative Strukturen sind der kleinste gemeinsame Nenner für Entscheidungsprozese. Wir kollaborieren uns sozusagen zu Tode. Wir haben leider den traurigen Zustand als normal akzeptiert, dass wir am modernen, super-kollaborativen und agilen Arbeitsplatz kaum noch Zeit für das Alleinsein haben. Aber Alleinsein bedeutet allein mit unseren Gedanken zu sein; sprich es bedeutet unabhängig zu denken. Alleinsein bedeutet unsere Emotionen zu spüren, sie auszuhalten und in uns – und somit auch in andere – reinhorchen zu können.
Bei unseren Projekten mischen wir daher immer immersive soziale Experiences, die das Kollektiv festigen, mit Momenten der Selbsterkenntnis. Zuletzt führte ich beispielsweise Führungskräfte eines deutschen DAX-Konzerns in die berühmte Boros Sammlung moderner Kunst in Berlin und die zwei Stunden, die wir dort verbrachten, waren wirklich Anschauungsunterricht in Sachen „sehen und verstehen lernen“. Sie hallten bei den Teilnehmern viel stärker nach als die konventionelleren Firmenbesuche oder Fachseminare des Weiterbildungsprogramms, das wir entworfen hatten. Eine „sentimentale Erziehung“, also die Schulung und Verfeinerung von emotionaler, ästhetischer und ethischer Intelligenz, wird immer wichtiger werden – und nur auf ihrer Grundlage wird in Zukunft effektive Zusammenarbeit zwischen Menschen untereinander, aber auch zwischen Menschen und Maschinen möglich sein.
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